Assamblagen

Märchenpapyrus

Märchenpapyrus

 

Ein Assamblagenzyklus von Irmingard Stelter

 

Nachdem ich 15 Winter in Luxor verbracht und sowohl in Ägypten als auch in europäischen Museen eine Fülle pharaonischer Kunst gesehen hatte, entdeckte ich im „Chicago House“* in Luxor ein Buch, worin mir völlig unbekannte Märchenpapyrus-Abbildungen auftauchten.** Da die Original-Fragmente in den Museen Europas verstreut sind und in Ägypten fast überhaupt nicht mehr vorhanden sind, war diese Zusammenfassung für mich eine große Überraschung:

Zunächst war mir völlig neu, dass vor 6.000 Jahren überhaupt Märchenillustrationen für Kinder gemalt worden waren. Dann faszinierte mich die bewegte Lebhaftigkeit der Darstellungen und der in ihnen gezeigte feinsinnige Humor. Die Zeichnungen erinnern mich an frühe Vorläufer der Fabeln von La Fontaine, in welchen personifizierten Tieren viel später ebenfalls gewisse Eigenschaften wie Schläue, Kraft und Durchtriebenheit zugewiesen werden.

So entstand für mich die Idee, diese eigenständige Märchenpapyrusreihe, nunmehr in einer ägyptisch-europäischen Kombination und neuzeitlicher Formensprache, aufleben zu lassen.

 

Dazu übernahm ich die Tierdarstellungen einzelner Motive in nahezu identischer Form, übertrug diese auf schwarze Bügel-Vlieseline und interpretierte nach dem Ausschneiden sowie Aufbügeln auf Japanpapier meine Figuren mittels weißer Konturen, zebrafell-gestreifter Gummifilz-Partien, kleiner Stoffausschnitte und freier Stickerei.

Der europäische Anteil meiner neuen Konfigurationen enthält Blechstanzen meiner Großmutter, mit denen sie Wäschemonogramme für ihre Aussteuer vordruckte. Die originale Farbspur dieser manuellen Druckvorgänge ist auf den Rändern der Buchstabenausschnitte noch vorhanden und wurde von mir in den übergreifenden Stickereien durch Fadenmixtechnik wieder aufgegriffen. Diese Monogrammbleche stellen ein europäisches Gegenstück zu den ägyptischen Kartuschen dar, denn die Anfangsbuchstaben der Bleche entsprechen den Monogrammen der von mir erdachten Tiernamen.

Weitere kryptische Namensschilder aus Schaumstoffringen in der entlehnten Kreisform altägyptischer Kartuschen kennzeichnen zusätzlich den „pharaonischen“ Namen, deren „unlesbarer“ Inhalt mit fiktiven Zeichen aus diversem banalen, neuzeitlichen Fundmaterial gefüllt ist.

So erhielt jedes Märchentier in diesem Zyklus zwei Namenskartuschen, die meiner europäisch-ägyptischen Formensprache Rechnung tragen. Die Tiernamen sind integraler Bestandteil der Bilder und laden zur Ent-Rätselung und zur Eigen-Interpretation ein.

Stoff- und Papiercollagenteile sowie Kunstpostkarten mit Abbildungen europäischer Kunstwerke sind szenisch eingefügt und bilden die Rahmenhandlung für die jeweiligen tierischen Selbstdarsteller, die ihre eigenes Monogramm gegen die kleineren, bewusst nicht zu enträtselnden Fantasie-Kartuschen ausspielen und sich kraftvoll in Szene setzen.

 

Die Bildreihe ist als Hommage an die unbekannten pharaonischen Bilderzähler gedacht und wurde daher erstmalig in Cairo 2005 vorgestellt.

 

* Das „Chicago House“ in Luxor hat eine einzigartige Ansammlung ägyptologischer Bücher, die von einer amerikanischen Stiftung in Luxor für Forscher aus aller Welt unterhalten wird.

 

* *Traut Brunner: „Altägyptische Tiergeschichte und Fabel“,

Wissenschaftliche Buchgesellschaft   Darmstadt